Die Zeit ist ein wunderliches Ding. Je mehr man sich nimmt, umso weniger hat man am Ende. Sie geht dahin und ändert sich im Plural. Eben noch hipp und neu, und schon abgewetzt und grauhaarig, ohne dass man genau sagen könnte, wie es so weit kommen konnte.
Raider heißt schon lange Twix und Twitter ist jetzt X. Und wenn ich eine alte Jacke anziehe, dann finde ich darin, wenn sie sehr alt ist, vielleicht noch einen Zehn-Mark-Schein. Wenn sie noch älter ist, sogar einen blauen mit Segelschiff. Wenn ich zum Saisonwechsel eine nur etwas ältere Jacke vom Speicher hole, dann finde ich ein Tempo in der Tasche, das dann aber eine Maske ist. Eine OP-Maske oder – wie hießen die noch mal? – FFP2. Dann denke ich, dass mir ein Zehn-Mark-Schein lieber gewesen wäre, und überlege, die Maske wegzuschmeißen, sie ist doch ziemlich schmuddelig und es liegen ohnehin noch einige originalverpackte im Bad, neben einem halben Dutzend längst abgelaufener Tests. Und dann wird man ja sicher auch bald die FFP3 auf den Markt bringen.
„Ich glaube, sowas trägt man nicht mehr“, sagt das Murmeltier im Vorübergehen, nachdem es mit dieser unerschütterlichen Freundlichkeit gegrüßt hat. Es meint einerseits die Maske – vor allem aber die Jacke, in der ich eben kein Tempo gefunden habe. Wieso, was denn an der Jacke auszusetzen sei, die sei teuer gewesen und ich hätte sie schließlich im letzten Jahr auch schon getragen.
„Auch noch“, korrigiert es, „die war im letzten Jahr auch schon old style.“
Das Murmeltier ist mir bislang nicht als Mode-Nerd aufgefallen, aber seine abfälligen Bemerkungen ärgern mich. Schließlich hat meine Tochter in einer noch deutlich älteren Jacke von mir anerkennende, ja neidvolle Blicke ihrer Peergroup geerntet, warum also nicht auch ich.
Ich verspüre eine schäbige Lust, gemein zu sein.
„Außerdem trägt man Pelz auch schon lange nicht mehr“, sage ich, eine billige Retourkutsche, ich weiß, mit der ich zudem meine moralische Überlegenheit unterstreiche. Das Murmeltier schaut an sich herunter, streicht sich über das Fell und kratzt sich dort, wo ich einen Bauchnabel vermute.
„Aber ich kann da nicht raus“, sagt es mit ratlosem Ernst.
„Es sei denn, ich ziehe es dir über die Ohren“, erwidere ich und lächle schadenfroh – im selben Moment aber steigt mir aufrichtige Empathie zu Kopfe.
„Entschuldige!“, sage ich beschämt. „Letztlich können wir ja alle nicht aus unserer Haut.“
Bericht aus der Werkstatt mit Großnager XV: Abgrillen
Bericht aus der Werkstatt mit Großnager XIII: Ahoi