Vor einigen Jahren noch, also bis etwa Mitte März, galt die Reproduktionsrate bei uns in Deutschland als besorgniserregend niedrig. Irgendwas bei 1,4 war das, ziemlich weit hinten in Europa. Schlimmer war es wieder mal nur in Italien.
Die Überalterung der Gesellschaft resultierte daraus, kopfstehende Bevölkerungspyramiden, kollabierende Rentensysteme, Nachwuchsmangel wohin man schaute und alles voller Rollatoren und Pedelecs, insgesamt eine ergraute Aussicht. Jetzt ist die Reproduktionsrate bei knapp 1 – und sollte wenn irgend möglich auf keinen Fall steigen. Bei 1,1 wird’s schon kritisch, sagen die Leute, von denen ich annehme, dass sie etwas davon verstehen, weil ich es selbst nicht tu.
Aber das mit der niedrigen Geburtenrate – stimmte das denn überhaupt? Im Moment kann ich es kaum glauben: Überall sehe ich Kinder! Lange Jahre konnte man tatsächlich glauben, sie wären fast verschwunden wie einst in Hameln. Aber jetzt ist die Straße auf beglückende Weise wieder voll von ihnen: Sie bemalen die grauen Gehwege, fahren mit den Rädern Kamikaze durchs Quartier – befreit von den muffigen Wohnzimmern der Geigenlehrerinnen, von „English for Kids“ und Kernbetreuung, von Ballettunterricht und Mathe-Nachhilfe. Nach einigen Tagen genervt von der Homeoffice-Atmosphäre zu Hause („Lauf mir nicht dauernd durch die Videokonferenz, Ole!“, „Kein YouTube, Sofie, ich brauch das Netz“), nach zwei Wochen angeödet von der Playstation und der zigsten Staffel der xten Serie auf Netflix, spielen sie wieder draußen auf der Straße, streifen durchs Viertel und gehen sogar in den Wald. Freiwillig, wie ich annehme. Und noch sehen sie nicht so aus, die Kinder, als wäre es jetzt doch mal genug mit diesen nicht enden wollenden Sommerferien.
Die Kinder von meinen Freunden in der Schweiz müssen morgens um acht vor dem Laptop sitzen – ordentlich gekleidet und gekämmt, kein ungewaschener Morgenmuffel mit Cornflakes-Resten im Schlafanzug, da wird Wert drauf gelegt und es wird digital kontrolliert und sanktioniert.
Es gibt also immer Möglichkeiten, es bei uns besser zu finden. Dass ich zum Beispiel hier nicht Marathon laufen muss auf dem Balkon. Und wenn mir die Kontaktsperre aufs Gemüt schlägt, dann denke ich kurz an die Leute, die ich in dieser Zeit nicht sehen muss – und schon geht es mir wieder besser.
Nur der Zoo, der könnte so langsam mal wieder öffnen. Ich muss da was abgeben.