Das Murmeltier kommt mit lebhaftem Gruß, aber schwer schleppend aus dem Keller hochgepoltert. Es klingt wie Christopher Robin, der seinen Bären Winnie the Pooh – ein Bär von sehr geringem Verstand – die Treppe hoch schleift. Ob ich mit ihm spielen wolle, es habe da erstaunliche Murmeln gefunden, etwas schwer zwar, aber interessant.
„Das sind keine Murmeln“, erkläre ich nach einem Blick in den alten Baumwollbeutel, „das sind Boule-Kugeln, siebenhundert Gramm das Stück. Außerdem habe ich keine Lust zu spielen, ich habe die Krise.“
Tatsächlich bin ich gerade etwas über den Punkt hinaus, der allgemeinen Niedergeschlagenheit mit ausgelassenem, weltvergessenem Spiel zu trotzen. Der Krieg in Europa, die steigenden Temperaturen, die Pandemie, die im Hintergrund mit den Hufen scharrt, die Zeitgenossinnen und -genossen, die untröstlich sind, nicht in einer Diktatur zu leben, um ausgiebig ihre Berufung zum Widerstandskämpfer bzw. -kämpferin ausleben zu können, ersatzweise aber schon mal einen heißen Herbst ankündigen, dem ein kalter Winter folgen wird – und das Murmeltier stinkt wie ein Frettchen, weil es sich aus Sorge um Energieknappheit und Wassermangel gar nicht mehr wäscht. Ach, das alles macht ja dermaßen mürbe.
Und jetzt ist, was man niemals für möglich gehalten hätte, auch noch die Queen gestorben – da möchte man doch alle Hoffnung dahinfahren lassen. Was wird nun aus Großbritannien? Es ist zum Weinen.
Das Murmeltier zeigt sich feinfühlig. Es hantiert verspielt mit den Boule-Kugeln, die bei ihm wie Medizinbälle wirken, und ist aufrichtig bemüht, mich aufzumuntern.
„Aber du weißt doch, immer wenn sich irgendwo eine Tür schließt, geht eine andere auf!“, sagt es tröstend. Ich weiß nicht, in welcher Apothekenumschau, welcher Bahnhofsbuchhandlung es diese Binse aufgeschnappt hat, aber ich bin nicht gewillt, mir so billig meine schlechte Laune verderben zu lassen.
„Außerdem ist doch zum Beispiel im Chinesischen das Schriftzeichen für Krise identisch mit dem für Chance …“, startet es einen weiteren Versuch. Das Murmeltier schaut mich treuherzig an, als hätte es mir einen offensichtlichen Ausweg aus meiner desolaten Tagesform gewiesen, und deutet mit den Boule-Kugeln fröhlich etwas wie Jonglieren an. Dabei fallen ihm siebenhundert Gramm Schwermetall auf die Füße und es heult mit entrüstetem Pfeifen auf.
„Ja. Aber“, sage ich ungerührt und beende damit diese Diskussion um einen völlig unangebrachten Optimismus, „das Zeichen für Chance steht immer auch für Krise.“
Bericht aus der Werkstatt mit Großnager IV: Deutsche Bahn
Bericht aus der Werkstatt mit Großnager VI: Der fliegende Robert