Gestern am Kino vorbeigekommen. Verlassen duckt es sich zwischen die Schmuckbauten an diesem sauber geschrubbten Rathausplatz gleich neben dem – genau: Rathaus.
Hier finden Sie alle älteren Artikel aus meiner monatlichen Kolumne. Was dem Lektor so auf- und einfällt.
Gestern am Kino vorbeigekommen. Verlassen duckt es sich zwischen die Schmuckbauten an diesem sauber geschrubbten Rathausplatz gleich neben dem – genau: Rathaus.
Wir sollen Abstand halten, sagen die Behörden und das sagt auch, so vorhanden, die Vernunft. Eben jetzt, wo ich dies schreibe, sagt das auch die Chefin im Fernsehen. Und wir tun das ja auch überwiegend, sofern wir vernunftbegabt sind, fast schon routiniert.
„In New York ist erstmals ein Tier von einem Menschen mit dem Coronavirus infiziert worden“, lese ich Juliane aus der Zeitung vor. Schön irgendwie – so scheint sich der Kreislauf Tier-Mensch-Tier ja letztlich wieder zu schließen. Ich weiß nicht genau, ob das jetzt gut ist oder was es für uns und unsere Situation im weiteren Sinne bedeutet, aber es klingt auf eigentümliche Art entspannend.
„Ein Nagetier?!“, mischt sich das Nagetier ein – ganz deutlich und deutlich besorgt. „Siebenschläfer, Wiesel, Kleinnagetier?“
„Nee“, sage ich, „eher ein Großnager.“
Das Murmeltier stiert mich einen Moment an, die Augen aufgerissen, soweit es dazu in der Lage ist, bei seiner dauerhaft verpennten Grundhaltung.
„Nein. Größer. Ein Tiger. Der nagt aber auch gerne. Am liebsten Knochen ab. Vorzugsweise Knochen von Nagetieren.“
Worauf es übergangslos wieder in sein missgelauntes Nuscheln verfällt („Ich nuschel nicht, ich murmele!“). Ich meine irgendwas von „Geschmacklos … Witze machen auf Kosten von Großnagern… sollte man nicht mehr grüßen ...“ und Ähnlichem herauszuhören. Aber als ich vorschlage, die vom Wochenende noch übrigen Ostereier zu schlachten, wedelt es sofort und begeistert mit dem Schwanz.
„Schwanzwedeln ist unwürdig für ein Murmeltier“, weise ich es zurecht. Den korrekten Genitiv vermeide ich dabei mit Bedacht, weil ich davon ausgehe, dass das kognitiv zwar erstaunlich weit entwickelte Tier damit grammatikalisch dann doch überfordert wäre. Bin außerdem gar nicht mal sicher, ob es einen Schwanz zum Wedeln hat.
„Ist eines Murmeltieres unwürdig, wenn schon“, korrigiert es mich spitz. „Und außerdem: Was weißt denn du schon davon?“
So geht das nicht weiter. Ich finde, dass in diesem Haus kein Platz ist für uns beide. Als warnendes Beispiel steht mir der Nachbar vor Augen, der seine Wohnung seit geraumer Zeit mit einem sozialistischen Känguru teilen muss. Ich muss mit dem Nager ernsthaft mal ein Wörtchen reden. Wobei es im Grunde natürlich Recht hat – seit Wochen reden ja ständig Leute über Dinge, von denen sie nicht ausreichend viel wissen. Und man kann da durchaus mal empfindlich reagieren. Aber mit dem Genitiv kenne ich mich schon einigermaßen aus, denke ich und finde, dass wir, wenn uns das Schicksal oder wer auch immer hier zusammengebracht hat, unbedingt bei unserer mehr oder weniger bewährten Arbeitsteilung bleiben sollten: Der eine macht fragwürdige Witze mit Wortspielen, der andere grüßt.
Man ging da nie gerne hin, auch vor diesem Frühjahr nicht, zum Hauptbahnhof Bonn. Eine ewige Baustelle, die nie fertig wurde und wird und von der man nicht sicher ist, ob man es den Bonnerinnen und Bonnern wünschen soll, dass sie fertig wird – man hätte nicht die Gewissheit, dass es danach besser ist.
Die Menschen beginnen, lose, dünne Hoffnungen zu einem brauchbaren Seil zu flechten für nach dem Lockdown – was für ein Wort im Übrigen: Lockdown. Kannte vor einem halben Jahr, also vor Mitte März, noch kein Mensch, weil es das Wort noch gar nicht gab. Klingt nach Regieanweisung, Action-Kino, James-Bond-Genre: „Wir müssen vor dem Lockdown noch etwas mehr Spannung aufbauen.“ So ähnlich.
Per E-Mail-Verteiler meines Berufsverbandes kommen gerade viele Auftragsanfragen an den Lektor: Es werden jetzt von ganz vielen Leuten ganz viele Romane geschrieben. Ich würde mir das ja für schlechteres Wetter aufheben, mit eingeschränkten Ausgehzeiten oder bei strenger Quarantäne – aber was will man machen, wenn die Muse ruft, dann ruft sie und spitzt die Lippen zum Kusse. Egal wie eitel der Sonnenschein ist.
Zu Hause riecht es zunehmend nach Kleintierhandlung, nicht nur unter meinem Schreibtisch. Ich bevorzuge daher die frische Luft draußen und gehe Richtung Rhein. „Vater Rhein?“, fragt das Murmeltier. „Sag ihm ’nen schönen Gruß!“
War klar. Ich antworte nicht.